Der Streit um die Erwähnung völlig legaler Proteste gegen den russischen Angriffskrieg im Berliner Verfassungsschutzbericht geht in die nächste Runde. Nach der wenig überzeugenden Begründung von Geheimdienstboss Fischer (SPD), das Teilen von Berichten über Aktionen auf der offenen Internetplattform Indymedia sei linksextremistisch, beantragten Abgeordnete von „Die Linke“ und „Die Grünen“ Akteneinsicht. In der Ausschussitzung am 4.12. erklärte Niklas Schrader (Linke): „Die Begründungen überzeugen mich nicht“.
Staatssekretär Hochgrebe (SPD) wiederholte in der aktuellen Sitzung des Ausschusses schlicht die alte Leier zu Indymedia. Jan Hansen von der Antimilitaristischen Aktion Berlin findet: „Berichte über legale Protest-Aktionen auf einer linken Open-Content-Plattform zu veröffentlichen, ist nicht verfassungsfeindlich.“ Dass die Geheimen ständig diese peinlich schlechte Begründung wiederholen, zeige, dass es keine Erkenntnisse gäbe, die die Beobachtung der Antimilitaristischen Aktion Berlin rechtfertigen könnten: „Ob die bei rechten Plattformen wie der Jungen Freiheit und CDUler*innen, die da Interviews geben, auch so streng wären?“
Putin-Gegnerinnen im VS-Bericht
Im Abgeordnetenhaus lassen Niklas Schrader (Linke) und June Tomiak (Grüne) nicht locker. Im Geheimdienstausschuss des Berliner Abgeordnetenhaus fragen sie weiter kritisch nach wegen der Erwähnung von Aktionen der Antimilitaristischen Aktion Berlin im sogenannten „Verfassungsschutzbericht“. „Irgendeine mutmaßlich rechte Putin-Tollfinderin, die im Geheimdienst arbeitet, störte sich an dem symbolischen Zersägen einer Papp-Pipeline für Erneuerbare Energien bei Gazprom und an den Leichensack-Atrappen, die die Antimilitaristische Aktion Berlin rund um die Russische Botschaft verteilten“ erklärt Jan Hansen. „Vermutlich deshalb landeten die Aktionen im Geheimdienstbericht.“ Bereits im September stellte Niklas Schrader deswegen im Geheimdienst-Ausschuss dem Geheimdienst-Boss kritische Fragen.
Begründung „nicht überzeugend“
Nachdem er nun endlich nach fast drei Monaten die Akten einsehen konnte, machte Schrader die Erwähnung von Aktionen der Antimilitaristischen Aktion Berlin erneut in der Sitzung des Geheimdienstausschusses am 4.12.2023 zum Thema. Sein Fazit zur Akteneinsicht: „Also ich hab mir das angeguckt (…) und naja (…) die Begründungen überzeugen mich nicht (…).“ (siehe Aufzeichnung des Livestreams ab min 57).
Akte erst noch extra gebastelt?
Laut Schrader sei in der Akte vom Umfang her nicht besonders viel: Er habe auch gehört, „da musste erst noch die Beobachtungsliste fertig gestellt werden“ oder bestimmte Dinge, die damit in Zusammenhang stünden. „Mussten die Geheimen erst extra ne Akte für die Akteneinsicht basteln?“ fragt Jan Hansen, Sprecher*in der Antimilitaristischen Aktion Berlin. „Und hat der Geheimdiensthaufen mangels Erkenntnissen irgendeinen Quatsch in die Akte geschrieben?“
Ungestört Champus saufen im Bundestag
Denn besonders substanziell könnten die Erkenntnisse des Geheimdienstes nicht sein. Laut Hansen habe sich die Gruppe gefragt, ob der Geheimdienst überhaupt irgendwelche Erkenntnisse habe und im Oktober beschlossen, die Probe aufs Exempel zu machen: „Wir haben uns im Bundestag angemeldet, unsere Personalien angegeben und sind durchleuchtet worden.“ Das Ergebnis: „Wir wurden anstandslos in den Bundestag gelassen und konnten uns dort von den Verunsicherungsbehörden ungestört an Bufetts vollfressen und mit Champus volllaufen lassen!“ (Die peinlichen Beweisfotos gibt es hier auf dem Blog der Antimilitaristischen Aktion Berlin). Laut Hansen zeige dies: „Der Geheimdienst hat genau gar keine Erkenntnisse über uns und redet Blech!“
„Übers Ziel hinaus geschossen?“
Ario Ebrahimpour Mirzaie (Grüne) schließt sich Schraders Kritik an: „Mir kam der Eindruck, dass man da übers Ziel hinausgeschossen ist.“ Bei der Akteneinsicht habe er sich die Frage gestellt „ob hier einfach ne Gruppierung, die man schon länger im Blick hat, jetzt herhalten muss als ‚Fallbeispiel‘ (…)“.
Straftaten?
Peinliches Zeug gibt hingegen Stephan Lenz (CDU und Burschenschaftler) von sich: „Man muss aufpassen, zu wessen Lobbyisten man sich hier macht (…). Das Begehen von Straftaten ist kein Mittel der politischen Auseinandersetzung. (…) Ist die Begehung solcher Straftaten extremistisch oder nicht? (…) Ich wollte davor warnen, dass hier der Eindruck entsteht, hier sei redlichen Akteuren Unrecht geschehen ist.“ Jan Hansen widerspricht: „Was bitte ist an einer Kundgebung für Erneuerbare Energien vor Gazprom und an symbolischen Leichensäcken vor der Kriegsverbrecherbotschaft strafbar?“
Ist die Nutzung einer linken Open-Content-Plattform verfassungsfeindlich?
Christian Hochgrebe (SPD), Staatssekretär für Inneres (das ist der Boss des Geheimdienstchefs Fischer (also der Geheimdienst-Boss-Boss)), antwortet auf die Fragen der Abgeordneten. Genau wie Herr Fischer im August hat sich auch Herr Hochgrebe extra einen Zettel gemacht. Er begründet, warum das Pipelinesägen bei Gazprom und Leichensäcke vor der russischen Botschaft in seinen Augen „linksextremistisch“ seien. Sein Argument: „Veröffentlicht wurden diese Aktionen auf dem Internetportal Indymedia, das diese Aktionen mit der Veröffentlichung für eigene Zwecke verwendet hat.“
Extremistinnen im Verfassungsschutz?
Jan Hansen dazu: „Sagen wir ja: Mehr als dass wir Texte auf einer linken Open-Content-Plattform veröffentlichen, von der irgendein putintollfindender Naziprepper aus Faulheit für den Verfassungsschutzbericht abgeschrieben hat, haben sie nicht.“ Dabei könne man dem Argument druchaus etwas abgewinnen: „Wenn man SPDlerinnen wie Egon Bahr oder alle CDUlerinnen, die schon Nazi-Postillen wie z. B. der ‚Jungen Freiheit‘ Interviews gegeben haben, als Extremistinnen in den VS-Bericht schreiben würde, wäre da kein Platz mehr für anderes. Schade, dass das Argument nur für linke Medien gilt!“
Russlandtollfindende Naziprepper im VS?
Besonders ärgert Herrn Hochgrebe unsere Vermutung, dass wir nur im Bericht gelandet sind, weil ein im Geheimdienst von Indymedia abschreibender AfD-Naziprepper sich über die Putin-Kritik geärgert habe: „Ich möchte auch an dieser Stelle betonen, dass es bei der Darstellung dieser Aktionen ausdrücklich nicht darum ging, Protest gegen den russischen Angriffskrieg zu stigmatisieren. Ebensowenig kann daraus eine Parteinahme der Verfassungsschutzbehörde Berlins zugunsten der russischen Seite abgeleitet werden.“ Jan Hansen dazu: „Wie viel diese Beteuerung von Berlins oberstem Staatsschützer wert ist, zeigt ein Blick in den VS-Bericht: Die Behörde tut so, als gäbe es in ihrem skandalgeschüttelten Laden nicht eine einzige Rechtsextremist*in…“
Verfassung schützen im Geheimraum?
Nach dem Statement des Staatssekretärs vertagt Ausschussvorsitzender Wansner die Debatte selbstverständlich in den Geheimraum. „Wenn der Geheimdienst angeblich ein Verfassungsschutz ist, warum heißt der Geheimraum dann Geheimraum und nicht Verfassungsraum?“ fragt Hansen. Seine Antwort: „Weil der Geheimdienst keine Verfassung schützt, sondern bloß seine eigenen angeblichen, viel zu oft leider kriminellen Geheimnisse. Es hängt weiterhin an Gruppen wie uns, mit Aktionen etwas gegen die ganzen putinfreundlichen Demokratiefeinde in Deutschland zu machen.“ Dass der Verfassungsschutz dabei keine Hilfe sein würde, sei Hansen von Anfang an klar gewesen: „Doch dass der Geheimdienst uns ausgerechnet dafür beobachtet, ist urkomisch.“
Mehr Infos:
Protestkundgebung am Abgeordnetenhaus
Internationale Solidarität mit der Antimilitaristischen Aktion
Parlamentarische Anfrage zur Antimilitaristischen Aktion im „Verfassungsschutzbericht“